ENTDECKEN SIE DIE ERSTE GROSSE RETROSPEKTIVE VON MARCELLE CAHN (1895-1981)

In der Geschichte der Kunst des XX. Jahrhunderts beginnt der Werdegang der Künstlerin mit dem Aufkommen der Stilrichtungen des Expressionismus und des Purismus. Er entfaltet sich dann in den fünfziger Jahren in freier Abstraktion, und zeichnet sich gleichzeitig durch Phantasie und große Strenge aus, was in den Relief- und Raumbildern der sechziger Jahre zu einem bemerkenswerten Höhepunkt führt. Marcelle Cahn hat sich vom unendlich Kleinen ausgehend auf die Suche nach einem architektonischen Raum begeben, parallel dazu nie auf das Figurative verzichtet – ihre „lyrischen Dinge“ betrachtete sie als „Neuschöpfung“ – und dabei eine ganz eigene Sprache der Abstraktion entwickelt, eine schlichte und sensible, ganz ohne Dogmatik. 

Diese Ausstellung stellt ihr künstlerisches Schaffen in den jeweiligen Kontext der Zeit, vom deutschen Expressionismus zu Beginn des XX. Jahrhunderts bis hin zu den wichtigsten Strömungen der geometrischen und lyrischen Abstraktion, sie zeigt den Reichtum und die Eigenheit des Werkes von Marcelle Cahn. Der chronologische Parcours umfasst über 400 Werke – Malereien, grafische Kunst, Skulpturen, Fotografien und Collagen –, die aus kulturellen Institutionen und französischen sowie ausländischen Privatsammlungen stammen und die Gesamtheit der Techniken widerspiegeln, deren sich die Künstlerin bediente.

„Liebe Frau Cahn, Sie sollten wahrhaft zur Ehrenbürgerin der Stadt Saint Étienne ernannt werden! Ich begnüge mich damit, Sie als Wohltäterin des Museums zu betrachten, und Spaß beiseite, ich bin Ihnen unendlich dankbar für alles, was Sie für uns tun.“ Mit diesen Worten würdigte sie Maurice Allemand, der Kurator (1947-1966) des Musée d’Art et d’Industrie de Saint Étienne (Museum für Industrie und Kunst von Saint Étienne) im November 1958. Auch in seiner umfassenden Korrespondenz mit Marcelle Cahn betonte er die außerordentliche Unterstützung, die sie der Einrichtung entgegenbrachte. Die besondere Beziehung der Künstlerin zum Museum von Saint Étienne zeigte sich vor allem in ihren Bemühungen, andere Künstler für das Museum zu gewinnen, um dessen Sammlungen zu bereichern. Der Parcours der Ausstellung wird aus diesem Grund mit einem besonderen Abschnitt fortgesetzt, in dem etwa vierzig Werke aus den Sammlungen des MAMC+ gezeigt werden. 

Marcelle Cahn wurde in Straßburg geboren, wo sie den Großteil ihrer Jugend verbrachte. Während des Ersten Weltkriegs machte sie in Berlin eine Ausbildung bei Lovis Corinth und Eugen Spiro, dann ging sie nach Paris und bildete sich bei Fernand Léger und Amédée Ozenfant weiter und lebte schließlich die letzten fünfunddreißig Jahre ihres Lebens in ihrer Wahlheimat Paris. Schon in der Zwischenkriegszeit nimmt sie an den großen Versammlungen zugunsten der abstrakten Kunst teil. Sie wurde von einflussreichen Künstlern und Kritikern ihrer Zeit unterstützt und geschätzt, hatte jedoch in den letzten Jahren ihres Lebens nur wenige Einzelausstellungen und lebte etwas isoliert, wobei sie sich zeitweise selbst aus der Welt der Kunst zurückzog. Aus materiellen und gesundheitlichen Gründen werden Collagen in den letzten fünfzehn Jahren zur wichtigsten Technik der Künstlerin, deren Anliegen es gleichzeitig war, sich mit einem Minimum ihr zur Verfügung stehender Ressourcen auseinanderzusetzen. Das verdeutlicht die Begeisterung einer Künstlerin, die ihr ganzes Schaffen auf Freiheit und Poesie der Geste ausgerichtet hatte, sowie auf das Spiel endloser Variationen.


Die Ausstellung ist eine Koproduktion mit dem Musée d’Art Moderne et Contemporain de Strasbourg MAMCS (Museum für moderne und zeitgenössische Kunst von Straßburg, vom 29. April bis zum 31. Juli 2022). Sie wird im Sommer 2023 auch im Musée des Beaux-Arts de Rennes (Museum der Schönen Künste von Rennes) gezeigt. Dabei wird sie an jeder Stelle den Örtlichkeiten angepasst. 

MARCELLE CAHN KURZBIOGRAPHIE

1895: Geburt in Straßburg, als Älteste einer jüdisch-elsässischen Familie. 
1914: Studium an der École des arts décoratifs de Strasbourg (Hochschule für dekorative Kunst von Straßburg), gleichzeitig Studium der Philosophie an der Universität Straßburg. Sie entdeckt die Malerei von Cézanne und Van Gogh.
1915-1918: lebt in Berlin. Besucht den Unterricht von Eugen Spiro und das Atelier von Lovis Corinth. Entdeckt die Ausstellungen der Galerie „Der Sturm“.
1920-1925: lebt zwischen Paris und Straßburg. Schreibt sich an der Académie Ranson (Akademie Ranson Paris) ein, an der Édouard Vuillard, Maurice Denis und Félix Vallotton unterrichten. 
1925-1930: lebt in Paris. Folgt dem Unterricht von Fernand Léger und Amédée Ozenfant an der Académie moderne. Erste abstrakte Bilder. Erste materielle Schwierigkeiten.
1930: nimmt an der einzigen Ausstellung der Gruppe „Cercle et Carré“ (Kreis und Quadrat) teil. Die Gruppe wurde 1929 von Michel Seuphor und Joaquín Torres Garcia in der Galerie 23 gegründet und umfasst 85 abstrakte und konstruktivistische Künstler.
Kehrt nach Straßburg zurück.
1932-1935: lebt in Paris, wie so viele ausländische Künstler  im Kontext der wirtschaftlichen Krise und dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland.
1939: verlässt Straßburg. Die Häuser ihrer Familie werden schon 1940 von den Nazis besetzt, danach bombardiert. Zieht zu ihrem Bruder nach Toulouse. 
1946: Rückkehr nach Paris, wo sie ihre Arbeit wieder aufnimmt. Kommt wieder mit ihren Freunden zusammen, u.a. Natalja Gontscharowa, Michel Seuphor und Jean Arp. 
1949: mit ihrer ersten Teilnahme am Salon des Réalités erscheint sie wieder in der Kunstwelt. 
1952: erste Einzelausstellung in der Galerie Voyelles (Vokale), Paris. Schafft wieder Collagen. Erste Augenprobleme. 
1953: erste Relief-Bilder.
1959: erste Retrospektive der Künstlerin in der Galerie Simone Heller, Paris. Der französische Staat und die Museen der Stadt Straßburg kaufen Bilder von ihr.
1961: Gründungsmitglied der Gruppe „Mesure“ (Maßnahme). Marcelle Cahn nimmt an der einzigen Ausstellung der Gruppe in Frankreich teil, im Musée des Beaux-Arts de Rennes. Erstes Raumbild.
1962-64: ihr Augenleiden verschlimmert sich. Sie hört auf zu malen.
1972: große Retrospektive ihres Werks, von dem CNAC (Centre national d’art contemporain) am Musée d’Art et d’Industrie de Saint Étienne organisiert. 
1980: Schenkung ihrer Werke und persönlichen Archive an das Musée d’Art Moderne de Strasbourg.
1981: Tod am 20. September in Neuilly-sur-Seine.  


Porträt: Marcelle Cahn (Detail), von Shirley Goldfarb und Gregori Mazurowski, etwa 1955, Silbergelatine-Abzug, 17,3 × 12,6 cm. Archive des MAMCS, Fonds Marcelle Cahn. Foto: Mathieu Bertola, Musées de la Ville de Strasbourg
 

LEITENDE KURATORIN

Cécile Godefroy ist Kunsthistorikerin, Doktorin der Universität Paris Sorbonne (Paris IV), Mitglied des Internationalen Kunstkritikerverbands AICA. Sie hat an französischen und amerikanischen Universitäten in Paris gelehrt. Sie ist Expertin für historische Avantgarden und Fragen der Interdisziplinarität in der Kunst. Sie war Ko-Kuratorin der Ausstellungen: „Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction“ (Die Farben der Abstraktion), Musée d’Art Moderne de Paris, Tate Modern, London 2014-15; „Picasso. Sculptures“, Musée national Picasso, Paris, BOZAR, Brüssel, 2016-17; und Kuratorin der Ausstellungen: „Les Musiques de Picasso“ (Musée de la Musique – Philharmonie, Paris, 2020); „Picasso ibero“, Centro Botín, Santander, 2021.  

Sie hat zahlreiche Werke und Essays über Picassos Werk geschrieben und wurde gerade mit der Leitung des zukünftigen Centre d’Études Picasso im Musée national Picasso beauftragt, das im Herbst 2023 eröffnet wird.

BETEILIGTE KURATOREN

Alexandre Quoi
Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des MAMC+

Barbara Forest
Leitende Konservatorin der Bestände des MAMCS Straßburg

Catalogue

Marcelle Cahn. En quête d'espace

Marcelle Cahn (1895-1981) a longtemps été présentée comme une artiste "discrète", développant humblement son œuvre à l’ombre des grands noms des avant-gardes. L’artiste fait aujourd’hui l’objet d’une nécessaire redécouverte : de l’infiniment petit à la quête d’un espace total, elle a développé un langage épuré et sensible où rigueur et fantaisie constituent le point d’équilibre d’une œuvre portée par la liberté et la poésie du geste, ainsi que le jeu des infinies variations.

Textes : 
Paul Lang, Aurélie Voltz, Jean-Roch Bouiller, Cécile Godefroy, Barbara Forest, Sophie Goetzmann, Serge Lemoine, Anne Montfort-Tanguy, Domitille d’Orgeval, Isabelle Ewig, entretien de Bernard Ceysson avec Alexandre Quoi, entretien de Serge Lemoine avec Cécile Godefroy et Alexandre Quoi.

Le catalogue comprend une version anglaise de tous les essais, en fin d’ouvrage.
Directrice d’ouvrage : Cécile Godefroy ; direction associée : Alexandre Quoi et Barbara Forest. Coédition par les éditions des Musées de Strasbourg, le Musée d'art moderne et contemporain de Saint-Étienne Métropole et le musée des Beaux-Arts de Rennes. 336 pages, 360 illustrations. 

Prix : 44 euros.

ETWA 400 WERKE

GEMÄLDE SKULPTUREN

GRAFISCHE KÜNSTE, FOTOGRAFIEN, COLLAGEN

PERSÖNLICHE RETROSPEKTIVE

CO-PRODUKTION

PARTNER MEDIEN

MIT DER UNTERSTÜTZUNG VON