Der Autodidakt wird oft als eine Art Genie gefeiert, als jemand, der in der „Schule des Lebens“ gelernt hat, dessen einzigartiges Werk trotz fehlender professioneller Ausbildung entstanden ist, der aber Fragen aufwirft und unsere Vorstellung von Kunst auf den Kopf stellen mag. Die Ausstellung heißt „Das Rätsel des Autodidakten“ und hat zum Ziel, diese idealisierende Vision des Autodidakten in der Geschichte des zeitgenössischen Kunst zu hinterfragen, um konkret zu betrachten, was sich ereignet, wenn man die Dinge im Selbststudium erlernt.
Was motiviert den Schritt zur Tat? Von was, von wem lernt man eigentlich? Welche Rolle spielen die Lebensumstände, das Alltagsgeschäft, die Erfahrungen? Die Ausstellung greift auf modernste theoretische Beiträge der Erziehungswissenschaften zurück und wirft einen neuen Blick auf die Rolle der Autodidaktik in einer künstlerischen Ausbildung, das heißt, auf „den Weg, ohne Meister zu lernen“. Sie fokussiert auf Schaffensprozesse, Herangehensweisen und manchmal heterodoxe Praktiken, die Künstler sich erarbeiten, wenn sie auf sich gestellt lernen.
Das Betrachtungsfeld betrifft hier vor allem die Zeit ab Ende der fünfziger Jahre, in der die zeitgenössische Kunst entstanden ist. Der Bruch mit der Tradition, den die Künstler herbeiwünschten, führten sie zu Praktiken des „Verlernens“ von Dingen, die sie in ihrer Ausbildung erlernt hatten. Viele autodidaktische Künstler strömen nun in die Welt der Kunst, und bringen mit ihrer neuartigen Arbeitsweise Gesten und Motive in die Kunst, die dem alltäglichen Leben oder anderen kulturellen Bereichen entstammen. Diese Bewegung wird auch von einem zunehmenden Interesse für Werke getragen, die sich nicht auf bestehende Traditionen beziehen. Die institutionelle Anerkennung dieser Werke, die man „art brut“ oder „outsider“ nannte, findet ihren Höhepunkt auf der Dokumenta 5 von 1972 und der Schenkung der art-brut-Sammlung von Jean Dubuffet an die Stadt Lausanne im gleichen Jahr.
Am Ende des 20. Jahrhunderts kommen neue Autodidakten in die Welt der Kunst, denn diese öffnet sich nun Produktionen aus nicht westlichen Kulturkreisen und beinhaltet Fragen zur Positionierung anderen künstlerischen Traditionen gegenüber. Die Ausstellung endet mit dem Anfang des 21. Jahrhunderts, als die Vervielfachung von Hilfsmitteln, Tools und digitalen Ressourcen, die user-friendly sind, neue Lernmöglichkeiten auftut, bis hin zum Aufkommen der Künstlichen Intelligenz und der autonomen Lernprozesse der Algorithmen.
Die Ausstellung umfasst auf etwa 1000 m² über 200 Werke von Autodidakten mit sehr unterschiedlichen Werdegängen, die sinnbildlich für verschiedene Arten des Wissensaufbaus durch sich selbst stehen, sowie Werke von einigen Profi-Künstlern, die beschlossen haben, von Null anzufangen und sich ins Unbekannte zu stürzen. Sie versucht die Absichten, Schaffensprozesse und Gesten einzuordnen, die – bewusst, intuitiv oder unbewusst – ästhetische Innovation hervorbrachten und denen manchmal im Nachhinein ein bedeutender Platz in der Kunstgeschichte zugekommen ist.
Kuratorin
Charlotte Laubard
Charlotte Laubard enseigne à la HEAD—Genève depuis 2013 et en dirige le Département d’Arts visuels depuis quatre ans. Ses activités de recherche à la HEAD l’ont portée, entre autres, à une relecture critique des pratiques d’apprentissage en autodidacte. Auparavant, elle a travaillé dans différentes institutions dédiées à la création artistique contemporaine dont le CAPC musée d’art contemporain à Bordeaux qu’elle a dirigé de 2006 à 2013. Elle fut aussi la curatrice de l’édition 2017 de Nuit Blanche à Paris et du Pavillon Suisse à la Biennale de Venise de 2019.
KÜNSTLER DER AUSSTELUNG
Georges Adéagbo, Horst Ademeit, Raymonde Arcier, Marcel Bascoulard, Ben, Adelhyd van Bender, Guillaume Bijl, Irma Blank, Alighiero Boetti, Christian Boltanski, Marcel Broodthaers, Frédéric Bruly-Bouabré, Sophie Calle, Maurizio Cattelan, Ferdinand Cheval, Roberto Cuoghi, Henry Darger, Justine Emard, Robert Filliou, Richard Greaves, Chauncey Hare, Seydou Keïta, Bodys Isek Kingelez, Yves Klein, Emma Kunz, Jean Le Gac, Gianni Motti, Tania Mouraud, Arnold Odermatt, Francis Palanc, Présence Panchounette, Gianni Piacentino, Carol Rama, Jean-Pierre Raynaud, Carole Roussopoulos, Jean-Michel Sanéjouand, Judith Scott, Ceija Stojka, Miroslav Tichý, Jeanne Tripier, Wendy Vainity, Galaxia Wang, George Widener, Adolf Wölfli.
Katalog
L'énigme autodidacte The self-taught enigma (Das Rätsel des Autodidakten)
Essays von Charlotte Laubard, Hélène Bézille, Lynne Cooke und Christophe Kihm, Einführungen zu jedem der 44 Künstler, Artikel von Marie Applagnat, Arthur Dayras, Alexandre Quoi und Elsa Vettier. Zweisprachig französisch-englisch. Koedition mit dem Verlag Éditions Snoeck. 340 Seiten. Preis : 45 Euro.
1000 m2 austellung
über 200 werke